"Humanismus ist die letzte Verteidigungslinie" (2024)

25 Jahre West-Eastern Divan Orchestra - "Humanismus ist die letzte Verteidigungslinie"

Di 16.04.24 | 08:17 Uhr

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"Humanismus ist die letzte Verteidigungslinie" (1)

picture alliance/Geisler-Fotopress/T.Bartilla

    Musiker aus Israel, Palästina und anderen arabischen Ländern spielen im West-Eastern Divan Orchestra seit 25 Jahren zusammen. Gegründet wurde es von Edward Said und Daniel Barenboim, um Menschen in der Musik zusammenzubringen. Von Andreas Göbel

    Das große Festkonzert in der Berliner Philharmonie fand unter denkbar schwierigen Bedingungen statt – angesichts der mehr als angespannten politischen Lage im Nahen Osten. Auf der Bühne war davon nichts zu spüren – es war äußerlich ein ganz normales Konzert, ohne Reden oder Ansprachen.

    Und das war auch nicht anders zu erwarten. Daniel Barenboim hat immer deutlich gemacht, dass es ihm um die Musik geht – darum, dass Menschen aus Ländern, die politisch verfeindet sind, in der Musik gemeinsam zusammenfinden können. Es ist der humanistische Gedanke, der vor 25 Jahren zur Gründung des Orchesters geführt hat.

    Mit Goethe Trennung überwinden

    Gegründet wurde das West-Eastern Divan Orchestra im Goethejahr 1999, dem 250. Geburtstag des Dichters. Wenn es in Goethes letzter großer Gedichtsammlung "West-östlicher Divan" heißt: "Orient und Occident / sind nicht mehr zu trennen", formuliert das den Hauptgedanken des Orchesters, dass durch Trennung keine Probleme gelöst werden können und dass gerade Kultur und Musik dazu beitragen können, diese Trennung zu überwinden.

    In einem Einlageblatt im Programmheft nahmen Daniel Barenboim und Mariam Said, die Frau des verstorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward Said, zur Eskalation im Nahen Osten Stellung. Sie formulierten die Hoffnung: "Humanismus ist die letzte Verteidigungslinie, die wir haben, um uns gegen die unmenschlichen Praktiken und die Ungerechtigkeiten zu wahren, die unsere Menschheitsgeschichte verunstalten."

    Mit Bruckner zusammen

    Die vierte Sinfonie von Anton Bruckner (passend zum 200. Geburtstag des Komponisten in diesem Jahr) enthält alles, was ein Festkonzert braucht: Feierlichkeit, Erhabenheit – und unter Daniel Barenboim auch ein bisschen Gigantomanie. Man fühlt sich in eine mittelalterliche Kathedrale versetzt mit einer Musik, die einfach da ist und mit ihren gewaltigen Eruptionen riesige Räume ausfüllt.

    Sicher, hier ist auch deutlich geworden, warum man Bruckners Sinfonien auch mal als Riesenschlangen bezeichnet hat. Daniel Barenboim braucht statt der üblichen 70 Minuten ganze 86! Was aber nach anfänglicher Unsicherheit im Orchester deutlich wird: Mit der Einheitlichkeit im Klang beweist hier das West-Eastern Divan Orchestra aufs Schönste, wie sehr ein Zusammenspiel möglich ist, auch wenn man politisch auseinander liegt.

    Talent und Karriere

    Als Solist wirkte der junge israelische Geiger Yamen Saadi in Mendelssohns Violinkonzert mit. Er wurde von Daniel Barenboim maßgeblich gefördert, kam mit 11 ins Orchester, wurde später dort Konzertmeister und machte seinen Abschluss an der Barenboim-Said-Akademie. Ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Karriere, die mit diesen Institutionen verbunden ist – immerhin ist er inzwischen Konzertmeister beim Orchester der Wiener Staatsoper.

    Seine sehr eigene künstlerische Persönlichkeit stellte er unter Beweis, indem er das viel gespielte Violinkonzert hier gar nicht so gefällig präsentierte, wie man es oft hört. Das war ein Spiel voller Dramatik und Furor, fordernd und das Orchester vor sich hertreibend. Keine billige Virtuosität, das hatte auch mal Ecken und Kanten, bisweilen richtige Kratzer. Hier hat man durchaus hinhören müssen.

    • Staatsoper/Gordon Welters

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    Die Frage nach der Zukunft

    Wie geht es nun weiter mit dem West-Eastern Divan Orchestra? Auch an diesem Abend wurde deutlich, dass die neurologische Erkrankung, die Daniel Barenboim schon vom Amt des Generalmusikdirektors der Staatsoper in Berlin zurücktreten ließ, den Dirigenten nicht mehr richtig am Pult agieren lässt. Er musste sich extrem langsam auf die Bühne quälen und konnte auf seinem Stuhl kaum Impulse geben.

    Sicher – ohne ihn wäre dieses Festkonzert nur schwer denkbar gewesen. Das West-Eastern Divan Orchestra ist sein Werk, sein Verdienst, und der große Jubel und die stehenden Ovationen galten vor allem seiner Lebensleistung als Musiker, aber auch als Humanist. Dennoch muss man überlegen, wer ihm nachfolgen kann. Und das ist eine extrem schwierige Aufgabe, denn einen Daniel Barenboim ersetzt man nicht so einfach.

    Sendung: Inforadio, 16.04.2024, 08:54 Uhr

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    1. 2.

      Wenn man die Vorberichte gehört hat, konnte man durchaus feststellen, daß es bei den Musikern unterschiedliche Auffassungen über die politische Lage gab. Das ist m.E.auch nachvollziehbar! Deshalb finde ich die Ausführungen über das Zusammenspiel total gerechtfertigt!

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    2. 1.

      "Mit der Einheitlichkeit im Klang beweist hier das West-Eastern Divan Orchestra aufs Schönste, wie sehr ein Zusammenspiel möglich ist, auch wenn man politisch auseinander liegt" - ist das denn automatisch so, dass die individuellen Musikerinnen und Musiker politisch über Kreuz liegen, weil ihre Heimatländer es tun? Wenn ich Mitglied in einer Gruppe dieser Art wäre, würde ich mich sogar ausdrücklich gegen die Idee verwahren, dass ich als Repräsentant meines Landes und desses Regierung agiere und nicht als individueller Künstler.

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